Kaffeemaschine

Seit dem zweiten Tag in der neuen Stadt suche ich auf eBay Kleinanzeigen nach einem Hund. Etliche Nachrichten, viele noch unangefasste Favoriten, eine beinahe erfolgreiche Anfrage und ein ärgerliches Telefonat später werde ich es wieder lassen. Es ist wohl immer noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich habe das Fahrrad und viel zu erkunden. Ich habe mir einen Bibliothekenausweis ausstellen lassen und ein Gutscheinbuch für die Stadt gekauft. Ich habe bereits die Termine für die Tageskliniken und muss mich noch zwischen den beiden entscheiden.

Die Suche nach der Kaffeemaschine lief deutlich schneller und erfolgreicher. Gestern alles vorgemerkt und angeschrieben, ein paar Deppen zurechtgewiesen, heute abholen gefahren. Am anderen Ende des nächstgelegenen Bezirks, nicht zu unterschätzen. Ein warmer Novemberabend, fühlt sich an wie 8 Uhr, ist erst vor halb 6. Ich radle los, mache bald die Jacke auf und den Schal ab. Im New Yorker Jutebeutel ist schon ein Loch, innen drin fünf Bücher und irgendwo darunter meine Strickmütze. Auf dem Hinweg staune ich immer wieder mit offenem Mund, als ich an von innen beleuchteten, einheitlichen Plattenbaubalkonen vorbeifahre, an Cafés, großen Kreuzungen, Lichtern, dem Tierpark vorbeifahre. Am Abholhort wächst im Vorhof ein Dahlienbeet, viele verschiedene Sorten. Die größte Blüte, rot mit weißumrandeten Blütenblättern, umfasse ich mit der Hand. Das Treppenhaus ist hoch, breit, mit Teppich ausgelegt und auf dem Weg nach unten überlege ich kurz, vom Weihnachtskaktus oder dem Gummibaum auf den Zwischenplattformen einen Trieb abzubrechen; ich lasse es. Draußen trete ich tief im gelben Laub, als ich das Fahrrad aufschließe, sitze mit nackten Knöcheln daneben, als ich mit dem Tierschutzverein telefoniere, setze die Mütze nach der ersten Ampelüberquerung doch noch auf. Der Fahrradweg ist weich in orangenem Laternenlicht getaucht und mit Lindenlaub gepolstert. Der Weg kommt mir gleichzeitig länger und kürzer vor als davor, im Fahrradkorb hinten klimpert die Kaffeemaschine. Beim Pirogi-Imbiss halte ich an, zähle die Münzen im Portmonnaie, ein Drittel fehlt mir, die Scheine will ich nicht wechseln, fahre wieder weiter, zum Abendessen wähle ich Bier und Buchstaben. 

Ich weiß, dass an meiner aktuellen Verfassung großteils die prämenstruellen Hormone schuld sind, denn das Wetter könnte eben gar nicht besser sein, jeden Tag bringt der November sein zärtestes, fahles Sonnenlicht hervor, schenkt mir seine feinste Milde. Vorgestern saß ich im Tanktop auf dem besonnten Balkon. Das meiste davon verpasse ich dennoch im Bett. Müde bin ich, von allem, was noch zu tun ich. Schaue mich nicht um, blende die Umgebung aus, schlafe viel und schlecht. Stelle mir vor, wie ich in Exil bin, ein Pünktchen auf einer großen runden Karte, in allen Richtungen umgibt mich viele Kilometer weit eine liebliche Fremde, die mir irgendwie lieb ist. Das Gefühl, irgendwie fremd zu sein und irgendwie heimatlos passt hier endlich dazu. 

Ich renne herum auf der Suche nach Orten, zu denen dieses Gefühl passt, weil ich es bisher nicht verändern, nicht ausschalten, nicht ersetzen, nicht stillen konnte. Ein Bedürfnis, das fast keins mehr ist, weil es um nichts mehr bittet, außer vielleicht darum, in Ruhe bloß sein zu dürfen, sich auszubreiten, mich zu vereinnahmen, alles zu durchdringen, Norm zu werden, nicht mehr bekämpft zu werden, nicht mehr mit Abhängigkeiten verdeckt und verkleidet zu werden, zu bestimmen, vorzumarschieren, immer an mir zu ziehen wie die Drehung der Erde, immer weiter durch Nächte und Tage. Das ist, was in mir liegt; ich stellte einmal die Frage, ob es denn anders sein könnte und alle zogen auf mich drauf los, mit ihren Ratschlägen, mit ihren Ansichten, mit ihren Beispielen, mit ihren Arten, jeder richtiger als der andere. Die Frage kann ich nicht zurücknehmen, ich kann aber freundlich Desinteresse bekunden, sachlich alles abweisen, was sich nicht mal Mühe gibt, sich irgenwie in mich hineinzuversetzen, sogar Freunde, die nicht einmal vermuten, es könnte mehr Tiefe in mir sein als das, was sie selbst von sich in mir finden wollen. 

Vielleicht passe ich bisher einfach nicht dazu und das ist die Geschwindigkeit meines Lebens. Ich möchte bei allem Leid trotzdem keine andere sein. Weil mein Blick auf die Dinge, der manchmal trübe, selten ruhende, der zögernde, leise ist wie ein Buch, sanft wie fahles Spätherbstlicht. Die ganze Sinnlosigkeit ergibt dadurch allein ihren Sinn, fügt sich zusammen zu etwas Körperhaftem, in dem ich wohnen kann. Das ist nicht der Teil an mir, den ich ändern will, sondern den ich kräftigen muss, damit ich zu dem stehen kann, entgegen der permanenten Einbildung, ich solle irgendwie anders sein, damit andere leichter mit mir umgehen können. Die Stunden dazwischen gehören nur mir und nur ich muss dann mit mir selbst umgehen, das darf ich nicht verlernen, um fremden Vorstellungen gerecht zu werden. Ich bin die Hüterin meiner Erinnerung und die Zeugin der Desillusion und niemand, der diese Last mit mir nicht teilen kann, darf mir irgendwas vorwerfen.

Morgen trinke ich schon mal einen Kaffee nach dem anderen mit meinen frisch ausgeliehenen Büchern von der neuen Heimbücherei und träume mir weiterhin einen Herbst zusammen, mit dem ich endlich Frieden schließe. Die Kälte genieße ich ohnehin schon. Dank dafür sei der echte Sommer, der ihm vorausging. Und mein Herz, das noch immer imstande ist, alles zu umschließen, einen Plattenbau wie einen Neuanfang. 


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